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Geschichte des Rechenschiebers: Gestern alltäglich, heute vergessen


Inhaltsverzeichnis

1 Geschichte des Rechenschiebers:
Gestern alltäglich, heute vergessen

Copyright (c) by Heinz Joss, CH-8108 Dällikon/Schweiz, Dezember 2004

Der Rechenschieber - über mehr als drei Jahrhunderte dem Fachmann unentbehrlich - droht in Vergessenheit zu geraten.
Versuch einer technik- und wissenschaftsgeschichtlichen Retrospektive

Dieser Artikel wurde seinerzeit für Leser geschrieben, die nicht aus Rechenschiebersammlern bestehen. Er erschien erstmals im Jahre 2000 in der Zeitschrift «Schweizerischer Ingenieur und Architekt SI+A», die sich an eine technisch orientierte, schweizerische Leserschaft richtet. Er wurde Ende 2004 für das Rechnerlexikon leicht überarbeitet. Da dieser Artikel ursprünglich für eine schweizerische Leserschaft bestimmt war, ist hier der Schweiz sowohl im Text als auch bei der Auswahl der Bilder ein besonderes Augenmerk gewidmet

Wer unter den Lesern dieses Artikels vor 1950 geboren ist, wird sich noch erinnern: Im Mathematikunterricht, in der Berufsausbildung, beim Studium und dann erst recht bei der Ausübung des Berufs war der Rechenschieber das alltägliche, zuverlässige, handliche und schnelle Rechengerät. Aber auch Leute, die sich noch gut an ihn erinnern, besitzen höchst selten eine Vorstellung von der langen und bedeutenden Geschichte des Rechenschiebers.

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Bild 1: Rechenscheibe aufgrund der sog. Smith Chart, hergestellt wahrscheinlich von Anoxal, Mellingen, Schweiz, für Zellweger AG, Uster, Schweiz. Die Scheibe diente der Berechnung von Fernsteuerungssignalen (Zentralsteuerung)

2 Älter als man allgemein vermutet

Der Erfindung des Rechenschiebers gingen sowohl eine Entdeckung als auch eine auf dieser Entdeckung aufbauende Erfindung voraus: Der Schotte John Napier (oft latinisiert Neper genannt) entdeckte und berechnete die Logarithmen und publizierte sie im Jahre 1594.

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Bild 2: Adrian Vlacqs siebenstellige Logarithmentafel, Frankfurt, 1790. Das numerische Rechnen mit Logarithmen war ab deren erster Publikation 1594 bis in unsere Zeit üblich, wenn die Genauigkeit des Rechenschiebers nicht ausreichte. Solche Tafeln gab es in grosser Zahl; im Impressum wurde oft dem Verlag das Recht auf Übersetzung (!) vorbehalten, im Vorwort stand meist zu lesen, es handle sich um die einzige fehlerfreie Ausgabe

Der Engländer Edmund Gunter stellte die Napierschen Logarithmen 1620 erstmals als Skala auf einem 2 Fuss langen hölzernen Massstab dar: Die Gunter's Scale, auf der mit Hilfe eines Stechzirkels graphisch gerechnet werden konnte, war erfunden. (Dass der Schweizer Jost Bürgi die Logarithmen vor Napier entdeckt und errechnet hat, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang, da Bürgis Entdeckung damals noch nicht bekannt war; Bürgi publizierte nämlich seine Tabellen erst im Jahre 1620.) - Ergänzt mit trigonometrischen und später mit ballistischen Skalen blieb die Gunter's Scale in leicht unterschiedlichen Formen als rechnerisches Hilfsmittel sowohl bei der christlichen Seefahrt als auch bei der Kriegsmarine erstaunlich lange in Gebrauch, nämlich bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts, also während rund 300 Jahren. Der wohl berühmteste Anwender war Admiral Nelson, der sich 1805 in der Seeschlacht von Trafalgar einer Gunter's Scale bedient haben soll. - Wenn in der deutschsprachigen Literatur hin und wieder zu lesen steht, zum Rechnen mit der Gunter's Scale seien zwei Stechzirkel zum Abgreifen der Zahlenwerte erforderlich gewesen, ist das ein sprachliches Missverständnis: «A pair of dividers» bedeutet bloss einen Zirkel und nicht deren zwei.

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Bild 3: Die Gunter's Scale, das erste analoge logarithmische Rechengerät und damit der Vorläufer des Rechenschiebers. Sie war von 1610 bis ins 20. Jh. hinein in Gebrauch; zum Rechnen mussten die Zahlenwerte (Strecken) mit dem Stechzirkel abgegriffen werden

Der eigentliche Rechenschieber, bei dem zwei logarithmische Skalen verschiebbar nebeneinander angeordnet sind, wurde um 1630 vom englischen Mathematiker William Oughtred erfunden. Das Prinzip der zwei aneinander verschiebbaren Skalen, das die Anwendung eines Stechzirkels erübrigte, hat dann in den unterschiedlichsten Formen rund 350 Jahre lang allen, die sich beim Rechnen nicht mit Addition und Subtraktion begnügen mochten, täglich treu gedient: Der analoge Rechner auf logarithmischer Basis trat seinen Siegeszug an. Sein Erfolgsrezept: Der Schwierigkeitsgrad des Multiplizierens wird auf jenen des Addierens, der des Dividierens auf jenen des Subtrahierens reduziert, und statt zu rechnen wird gemessen. (Rechenschieber mit linearen Skalen zum Addieren und Subtrahieren hat es nur höchst selten gegeben; offenbar bestand kein Bedürfnis dafür, da diese beiden Rechenarten auf andere Weise ebenso leicht und zudem genauer bewältigt werden konnten.)

3 Die unterschiedlichen Formen des Rechenschiebers

Bereits Oughtred hatte seine Erfindung des Rechenschiebers in zwei Formen angemeldet: Zwei gerade Skalen bildeten den Rechenstab, zwei kreisrunde Skalen ergaben die Rechenscheibe. - Hier eine kurze Bemerkung zur Terminologie: Der Rechenstab wird bis heute meistens als Rechenschieber bezeichnet, was nicht ganz präzise ist. Rechenschieber sind sämtliche analogen Recheninstrumente, bei denen zum Rechnen eine Skala entlang einer anderen Skala verschoben wird. Die Bezeichnung Rechenschieber ist somit der Oberbegriff; Unterbegriffe sind Rechenstab, -scheibe und -walze sowie die anderen, weniger üblichen Formen.

3.1 Der Rechenstab

Der Rechenstab erreichte, vermutlich wegen der technisch leichteren Herstellbarkeit, im Laufe der Jahrhunderte die weitaus grösste Verbreitung; bis gegen das Ende des 19. Jahrhunderts kam diese Form des Rechenschiebers sogar fast ausschliesslich vor. In seiner Urform wies er zwei Skalen auf, die aneinander glitten, nämlich ein Grundskalenpaar mit einer logarithmischen Teilung, die von 1 bis 10 bzw. von 1 über 10 bis 100 reichte. Die Bauart mit einer Zunge innerhalb eines Körpers erlaubte es aber, zwei Skalenpaare anzubringen, da ja zwei Gleitfugen zur Verfügung standen. Zu den zwei Grundskalen traten nun noch zwei Quadratskalen hinzu, mit einer logarithmischen Teilung, die zweimal von 1 bis 10 lief. Damit war aber den Möglichkeiten, weitere Skalen anzubringen, auch schon ein Ende gesetzt. Der Läufer, der es gestattet, auch sich nicht direkt berührende Skalen rechnerisch miteinander in Verbindung zu bringen, wurde zwar bereits 1675 von Isaac Newton erfunden und 1775 (hundert Jahre später!) von John Robertson praktikabel gemacht, blieb aber noch weitere 75 Jahre ohne Anwendung.

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Bild 4: Englische Rechenstäbe aus dem 19. Jh., aus Buchsbaum bzw. Elfenbein, alle noch ohne Läufer, z. T. mit zwei oder gar vier Zungen, um eine grössere Anzahl von Skalen unterbringen zu können; die drei vorderen Modelle waren Vorläufer der später wieder beliebten, beidseitig anwendbaren Duplexbauweise

Man behalf sich auf andere Weise, um das Bedürfnis nach einer grösseren Anzahl Skalen zu befriedigen: Man versah die Rückseite der Zunge mit weitern zwei Skalen und wendete die Zunge, um diese Skalen zu benützen, oder man baute Rechenstäbe mit zwei, drei oder gar vier Zungen, was die Anordnung von vier, sechs bzw. acht Skalenpaaren ermöglichte, bei wendbaren Zungen wurden es sogar acht, zwölf bzw. 16 Skalenpaare. - Eine andere Lösung bot die zwar alte, aber sich erst sehr viel später breit durchsetzende sog. Duplex-Bauweise: Ein aus zwei separaten Teilen bestehender Körper wird lediglich an den Enden von zwei oder vier Stegen zusammengehalten, zwischen diesen zwei Teilen läuft die Zunge. Der Duplex ist damit ein auf beiden Seiten gleichwertig verwendbarer Rechenstab. Hier können, bei nur einer Zunge, die zudem nicht gewendet werden muss, doch vier Skalenpaare angebracht werden, je zwei auf der Vorder- und auf der Rückseite. - Die allgemeine Einführung des Läufers begann erst mit dem Rechenstabsystem des Franzosen Mannheim, auf den noch zurückzukommen ist. Der Läufer gestattete es, Rechenstäbe mit fast beliebig vielen Skalen zu versehen, da mit seiner Haarlinie auch einander nicht berührende Skalen miteinander in Beziehung gebracht werden konnten. - Und so blieb denn der Rechenstab gegenüber anderen Rechenschieberformen vorherrschend, da diese, bedingt durch die Bauweise, meist auf nur wenige Skalen beschränkt bleiben mussten.

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Bild 5: Zwei kaufmännische LOGA-Rechenstäbe, mit 30 bzw. 15 cm Skalenlänge als Tisch- bzw. Taschenmodell; die Rechenstäbe der Konkurrenz wiesen bloss 25 bzw. 12,5 cm auf. Ein Patent von LOGA: Ausführung in bedruckter Pappe, mit Metallkanten, Vorder- und Rückseite je mit eigener Zunge (deshalb Doppel-Rechenschieber genannt)

Weshalb denn überhaupt andere Bauformen? Es waren zwei Problemkreise, die später - unter verbesserten herstellungstechnischen Möglichkeiten - zur Entwicklung anderer Rechenschieberformen führten.

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Bild 6: Die drei üblichsten Bauformen des Rechenschiebers: Rechenstab, -scheibe und -walze (Skalenlängen 15, 30 bzw. 240 cm; alle drei Objekte stammen von der Fa. LOGA, Zürich, später Oerlikon bzw. Uster)

3.2 Die Rechenscheibe

Das eine dieser Probleme, eindeutig ein Nachteil der Bauform Rechenstab, war das sogenannte Durchschieben, das einem flüssigen Rechnen abträglich war. Unter Durchschieben versteht man das Verschieben der Zunge eines Rechenstabs um eine ganze Skalenlänge nach links oder nach rechts, wenn das abzulesende Resultat eines Rechenvorgangs ausserhalb der Körperskalen zu liegen kommt. Die Rechenscheibe wies diesen Nachteil nicht auf; mit ihren in sich geschlossenen, kreisrunden Skalen erlaubte sie ein kontinuierliches Rechnen, und das wurde denn auch als Hauptvorteil der Rechenscheibe gebührend angepriesen. Trotzdem erreichte die Rechenscheibe erst anfangs unseres Jahrhunderts eine vorerst eher bescheidene Verbreitung. Ab Mitte der 1930er-Jahre versuchte die Firma LOGA, Uster, Schweiz, mit ihren technisch neu entwickelten Rechenscheiben gegen die erdrückende deutsche Konkurrenz der Rechenstäbe (hauptsächlich die Produkte von Dennert & Pape/Aristo, Faber-Castell und Nestler) und gegen die wegen der zunehmenden Verbreitung mechanischer Rechenmaschinen schwindende Nachfrage nach Rechenwalzen aufzukommen, was ihr auch teilweise gelang. Vor allem an höheren Schulen entbrannte dabei aber oft beinahe ein Religionskrieg: Dem einen Lehrer war der herkömmliche Rechenstab heilig, der andere schwor auf die neu propagierte Rechenscheibe mit der Werbebotschaft «Immer vorwärts rechnen».

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Bild 7: Rechenscheibe «Blitzrechner» von Ernst Billeter, Zürich, um 1912. Die Typenbezeichnung A1 kennzeichnet die Scheibe mit einer Skalenlänge von 30 cm; daneben gab es noch ein Modell A2 mit einer solchen von 75 cm

Die in der Schweiz üblichen Rechenscheiben wiesen meistens Skalenlängen von 30 oder 75 cm auf; sowohl die Taschen- als auch die Tischmodelle hatten somit eine bedeutend grössere Skalenlänge als die in der Regel nur 12,5 bzw. 25 cm messenden Skalen der Rechenstäbe für die Tasche bzw. für den Arbeitstisch. Die Scheibe bildete damit eine vorteilhafte Alternative zum Rechenstab, war sie doch spürbar genauer; beim Rechenschieber ist ja die Rechengenauigkeit eine Funktion der Skalenlänge.

3.3 Die Rechenwalze

Damit sind wir auch schon beim anderen Problem angelangt, bei der Rechengenauigkeit. Sowohl den Rechenstäben als auch den -scheiben waren bezüglich Skalenlänge recht enge Grenzen gesetzt. Längere Skalen hätten zwar in doppelter Hinsicht Genauigkeitsvorteile gebracht: Die grössere Länge würde an sich schon eine höhere Rechengenauigkeit ermöglichen, und sie hätte zudem dem Hersteller ein noch feineres Unterteilen der Skalen erlaubt.

Rechenstäbe wiesen, wie bereits erwähnt, in der Regel Skalen von 12,5 oder 25 cm auf; für speziell hohe Genauigkeitsanforderungen wurden auch noch teure 50 cm-Stäbe angeboten. Noch längere Skalen waren bei Stäben aus Gründen der Handlichkeit, aber auch wegen der unvollkommenen Materialeigenschaften kaum realisierbar (es gab allerdings Rechenstäbe mit einer Skalenlänge von 1 m). Während rund 300 Jahren war ja Holz der fast ausschliesslich verwendete Baustoff für Rechenstäbe. Das Sichverziehen von Holz setzte der Stab- und damit der Skalenlänge zwangsläufig natürliche Grenzen; bereits 25 cm-Stäbe waren oft einem feuchten Klima nicht gewachsen und begannen zu klemmen.

Um doch längere Skalen zu erreichen, wurde gegen Ende des letzten Jahrhunderts eine weitere Form des Rechenschiebers entwickelt, die Rechenwalze. Ihr Prinzip entspricht einem sehr langen Rechenstab, der in beispielsweise 50 gleichlange Teile zerlegt wird, um diese Teile parallel zueinander rund um einen zylindrischen Körper anzubringen; die Zunge wurde als dreh- und schiebbare Manschette über diesen Zylinder gestülpt. Rechenwalzen wiesen meistens Skalenlängen von 1,2, 2,4, 7,5, 10, 15 oder 24 m (!) auf. Mit den verschiedenen Walzengrössen konnte den unterschiedlichen Anforderungen der Anwender an die Rechengenauigkeit entsprochen werden. Es waren vor allem schweizerische Hersteller, die erfolgreich solche Walzen bauten; wegen ihrer Genauigkeit erfuhren sie im Banken- und Börsenwesen, aber auch in der Industrie, weltweit grosse Verbreitung. - Das Aufkommen von leistungsfähigen und gleichzeitig erschwinglichen mechanischen Rechenmaschinen setzte der Beliebtheit der Rechenwalze in den 1930er-Jahren jedoch ein Ende; in Betrieb blieben sie aber teilweise noch bis in die 1970er-Jahre. (Vgl. zum Thema Rechenwalzen den Beitrag «Rechenwalzen, die Rechenschieber mit den langen Skalen» des Autors im Rechnerlexikon.

Rechenzylinder, eine Bauform ausschliesslich englischen Ursprungs, erreichten bei kleineren Gesamtabmessungen ähnliche Genauigkeiten wie die Rechenwalzen; Rechenzylinder waren mit einer platzsparenden, schraubenlinienförmigen Anordnung der Skalen versehen.

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Bild 8: Englischer Rechenzylinder «Otis King», teleskopisch zusammenschiebbar für die Tasche, mit schraubenlinienförmige Skalen von fast 1,7 m Länge (66") bei einer Baulänge von nur 15 bzw. ausgezogen 26 cm. Die «Otis King» wurden von der Caribic Ltd., Coventry, später London, gebaut. Um den unterschiedlichen Wünschen bezüglich Skalen zu entsprechen, konnte aus 13 Typen ausgewählt werden. Bild: Das eine Objekt, ca. 1960, ist verchromt und mit Boxcalf bezogen, das andere, ältere (ca. 1930), aus Messing mit Schlangenleder

3.4 Weitere Formen des Rechenschiebers

Es gab noch weitere Formen des Rechenschiebers, sie blieben jedoch auf geringe Stückzahlen beschränkt, sei es wegen der schwierigeren Herstellung, sei es, weil andere Formen sich erfolgreicher durchzusetzen vermochten. Es gab Rechentafeln und Rechenroste (eigentlich die Vorläufer der Rechenwalzen), Rechenringe und Rechenräder. Auch Rechenuhren waren beliebt; als Rechenuhren bezeichnet man in Taschenuhrgehäuse eingebaute Rechenscheiben mit Antrieb über eine oder zwei Kronen; sie sahen zwar wie Taschenuhren aus, hatten aber in der Regel keine Zeitmessfunktion. Es gab aber eine französische Taschenuhr, bei der rund um das Uhrenzifferblatt eine Rechenscheibe angebracht war; sie war wohl die erste eigentliche Uhr mit Rechenscheibe. Bei Taschenuhren hat sich dieses Prinzip nicht durchzusetzen vermocht, wohl aber bei den Armbanduhren: Chronographen (Stoppuhren) in Verbindung mit einer Rechenscheibe bildeten die sog. Pilotenuhren, wie sie von renommierten Uhrenherstellern auch heute noch gebaut werden.

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Bild 9: Links Taschenuhr mit Rechenscheibe und Läufer, welche über die zwei seitlichen Kronen angetrieben werden. Rechts Rechenuhr, deren Scheibe über die mittlere und deren Läufer über die seitliche Krone betätigt werden. Beide Objekte gefertigt von Meyrat & Perdrizet, Seloncourt, Dpt. Doubs, Frankreich, um 1890. Sehr seltene Stücke, deren Herkunft erst vor kurzem ermittelt werden konnte.

3.5 Der vergrössernde Läufer

Das Verlängern der Skala zur Erhöhung der Rechengenauigkeit war nicht der einzige Ansatz; ein anderer Weg war das Erhöhen der Einstell- und Ablesegenauigkeit durch Ausrüsten von Rechenstäben mit einem vergrössernden Läufer. Schon recht früh gab es Läufer, über denen auf einem Stativ eine Lupe angebracht war. Später behalf man sich mit einer schmalen, halbzylindrischen Lupe aus Plexigum, die mittig auf das plane Läuferglas gekittet war. Der spätere Übergang von mineralischen Läufergläsern zu solchen aus Acrylglas ermöglichte die preisgünstige Herstellung schwach zylindrisch gewölbter Läufer, die zwar nur leicht vergrösserten, aber über die ganze Läuferfläche einen guten Überblick über die Skalen gewährleisteten. - Alle diese Vorrichtungen erlaubten ein genaueres Einstellen und Ablesen des Rechenstabs.

4 Rechenschiebermaterialien

Die am Beginn der Entwicklung des Rechenschiebers stehende Gunter's Scale bestand aus einem Stab aus Buchsbaumholz. Holz blieb denn auch rund 300 Jahre lang das wichtigste Material zur Herstellung von Rechenstäben. Der Buchsbaum wurde später durch Mahagoni und Birnbaum ersetzt; auch andere Hölzer kamen zur Anwendung, bis hin zum seltenen und schweren Ebenholz. Ein ganz spezielles Holz wurde ausschliesslich von den japanischen Herstellern verwendet, nämlich Bambus, der aber in früheren Jahren in Europa als Rechenschiebermaterial eher misstrauisch betrachtet worden ist. Heute wissen jedoch die Sammler, nachdem auch die allerjüngsten Exemplare der Bambus-Rechenstäbe rund ein halbes Jahrhundert alt geworden sind, dass Bambus eine unübertreffliche Formstabilität besitzt und unvergleichliche Gleiteigenschaften aufweist; selbst die ältesten Bambusrechenstäbe laufen heute noch «wie geschmiert».

Ursprünglich wurden die Skalen direkt in das Vollholz graviert und schwarz eingefärbt, ab Ende des 19. Jahrhunderts wurde Vollholz, bei teureren Modellen auch Schichtholz, oft mit eingelegten Metallversteifungen, mit einer weissen Celluloidauflage versehen. Diese Auflage verbesserte den visuellen Kontrast zwischen den schwarzen, später auch mehrfarbigen Skalen und ihrem Untergrund und ermöglichte ein weniger ermüdendes und damit auch genaueres Rechnen. In frühen Zeiten wurde derselbe Effekt mit dem Material Elfenbein erzielt, das aber teuren Modellen vorbehalten bleiben musste.

Metall wurde eher ausnahmsweise als Baustoff für Rechenstäbe verwendet; es gab solche aus Stahl, Messing, Neusilber und Aluminium, sie blieben aber seltene Aussenseiter. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Holz zunehmend von Kunststoff verdrängt, der eine wesentlich einfachere Herstellung gestattete und zudem nicht feuchtigkeitsempfindlich war. Zuerst wurden die Rechenschieberprofile aus Kunststoffblöcken herausgefräst, später wurde mit zeit- und materialsparendem Spritzguss gefertigt. Wie so oft, hat man das neue Material zu Anfang nur ungenügend beherrscht und zu viel von ihm erwartet: Frühe Kunststoff-Rechenstäbe klemmen unter Umständen schlimmer als hölzerne.

Rechenscheiben wurden meist aus Pappe oder Aluminium hergestellt, je nach Anspruch auf Dauerhaftigkeit; Kunststofffolien gelangten später ebenfalls zur Anwendung.

Frühe Rechenwalzen hatten ein Holzgestell mit einem Zylinder aus Blech, überzogen mit Papier und waren mit Lack gegen Feuchtigkeit geschützt. Die Gestelle sind dann später aus Metall gefertigt worden, wobei die seitlichen Teile meist kunstvoll durchbrochen den Namenszug des Herstellers aufwiesen.

5 Rechenschiebergeschichte - geographisch gesehen

Erfunden 1630 in England, blieb der Rechenschieber rund 100 Jahre lang ein ausschliesslich englisches Gerät. Trotz seiner grossen Verbreitung im wirtschaftlich blühenden Ursprungsland schaffte der Rechenschieber den Sprung auf den europäischen Kontinent erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aber, dank der nun einsetzenden industriellen Produktion, tat er dies mit grossem Erfolg und weiter Verbreitung. Fast hundert Jahre lang war nun Frankreich das führende Land der Rechenschieberproduktion. Barbotheu und Tavernier-Gravet waren französische Marken, die damals auch im Ausland grosses Ansehen genossen.

Der deutsch-französische Krieg mit seiner Importsperre führte dann dazu, dass auch in Deutschland die Rechenschieberherstellung aufgenommen wurde. Die deutschen Hersteller Dennert & Pape (später unter der Marke Aristo bekannt), Faber-Castell und Nestler eroberten sich je ihr Stück des Weltmarktes, in den sie sich aber später mit ebenso erfolgreichen Herstellern anderer Industrieländer zu teilen hatten. Von ihnen seien hier nur die bekanntesten des 20. Jahrhunderts genannt: Graphoplex in Frankreich, Blundell-Harling und British Thornton in England, Sun Hemmi in Japan, Dietzgen, Keuffel & Esser sowie Picket & Eckel in den USA. An einzelne dieser Markennamen werden sich ältere Leser bestimmt noch erinnern.

Das kleine Land Schweiz hat verblüffend viele Namen aufzuweisen, die mit dem Rechenschieber in Verbindung gebracht werden können. Der Innerschweizer Autodidakt Felix Donath Kyd hat bereits 1834 versucht, einen Rechenschieber, den er einem eher zufällig in seine Hände geratenen englischen Vorbild nachempfunden hatte, publik zu machen; Kyd entwickelte einen Rechenstab zur Ermittlung des Gesamtpreises aus Menge und Einheitspreis, wohlgemerkt in einer der damaligen in Gulden und Schillinge geteilten, nichtdezimalen kantonalen Währungen. Der Stab selber scheint nicht erhalten zu sein, wohl aber seine Beschreibung. - Der Zürcher Bankier Leonhard Pestalozzi hat für sich selber aus Zeichenpapier einen Rechenschieber für Währungsumrechnungen gebastelt, der, obwohl bloss eine primitive Einzelanfertigung, gleich mehrfach in die Literatur eingegangen ist (Culmann, Zürich, hat über ihn berichtet, dann Tetmajer, ebenfalls Zürich, und später Cajori, USA; einer hat es vom anderen abgeschrieben). - Der an der Zürcher ETH lehrende Carl Culmann hat theoretische Beiträge zum graphischen Rechnen geleistet, einen Rechenschieber zur Distanzmessung entwickelt und sich für die Verbreitung des damals in der Schweiz offenbar noch wenig bekannten Rechenstabs eingesetzt.

Die Firmen Jakob Kern und Eschmann-Wild, beide in Aarau, Schweiz, gehörten zu den ersten erfolgreichen schweizerischen Herstellern; sie beschränkten sich allerdings auf geodätische Rechenstäbe (bei Kern «Règle à Calcul pour la Stadia Topographique» bzw. bei Eschmann-Wild «Tachymetrischer Rechenschieber» genannt). Johann Jakob Stambach (Winterthur, später Zürich) arbeitete ebenfalls auf dem Gebiet des geodätischen Rechenschiebers (als Wissenschafter hat er möglicherweise sowohl für Kern als auch für Eschmann-Wild im Auftragsverhältnis gearbeitet). Die geodätischen Rechenschieber wurden zur Hauptsache als Bestandteil von Messtischausrüstungen abgegeben, seltener auch separat angeboten.

Silvio Masera, Winterthur, hat einen Rechenstab mit einer in sich geschlossenen Skala (an sich das Charakteristikum der Rechenscheibe!) erfunden. Er integrierte ein Endlosband in den Körper eines Rechenstabes; ein Patent auf diese Idee hat er 1902 erhalten, ob sein Rechenstab je gebaut worden ist, ist jedoch nicht bekannt.

Der aus Graubünden stammende Florian Cajori (ursprünglich hiess er Cajöri), mit 16 Jahren nach den USA ausgewandert, später Professor für Geschichte der Mathematik und Dekan an der University of California, hat 1909 das erste umfassende wissenschaftliche Werk über Rechenschieber verfasst, ein Buch, das heute als die Bibel der Rechenschiebersammler gilt.

Der Seidenfabrikant Julius Billeter in Zürich baute vorerst Rechentafeln, 1888 gründete er die erste Rechenwalzenfabrik. Sein Sohn Ernst führte diese Tätigkeit in einer eigenen Firma weiter; dessen Neffen Ernst und Max wiederum bildeten eine eigene Firma, aus der Max später ausschied, um unter der Marke National auch wieder Rechenwalzen zu bauen. - Gegen Ende des Jahrhunderts begann auch der aus dem damals preussischen Rheinland eingewanderte Heinrich Daemen-Schmid in einer Mansarde in Zürich-Unterstrass mit der Herstellung von Rechenwalzen; die von ihm gegründete Firma LOGA hat später in Oerlikon und dann in Uster Rechenstäbe, -walzen und -scheiben produziert.

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Bild 10: Heinrich Daemen-Schmid war der Gründer der Fa. LOGA, der bekanntesten schweizerischen Rechenschieberfabrik; seine sechs Söhne waren teilweise auch in der väterlichen Firma tätig. - Vater Heinrich trug als einziger ein Toupet (Haarteil), um den familientypisch mageren Haarwuchs zu kaschieren

In den 1920er-Jahren wurden die Walzen zu Zehntausenden in alle Welt verkauft: Neben LOGA waren Billeter und später die aus Billeters Firma hervorgehende National-Rechnewalzen AG, Zürich, Produzenten von weltweiter Bedeutung. Die schweizerische Rechenwalzenherstellung war so erfolgreich, dass LOGA in Berlin ein Zweigwerk eröffnete; Logawalzen schweizerischen Ursprungs blieben jedoch immer ein paar Franken teurer als solche aus deutscher Produktion. Nur die Firma LOGA hat das Ende der Rechenwalzenära überlebt; der Siegeszug des Taschenrechners in den 1970er-Jahren trieb aber auch sie in den Abgrund.

Die Uhrenfabrik Pedos SA im bernischen Renan stellte erfolgreich eine Rechenuhr mit dem schönen Namen Calculigraphe her.

Zu Ende des zweiten Weltkriegs, als man annehmen durfte, die technische Entwicklung des Rechenschiebers in den damals aktuellen Formen des Rechenstabes und der Rechenscheibe sei abgeschlossen, hatte der Zürcher Ingenieur Walter Hiltpold den Mut, mit einer neuen Form, einer halbrunden Scheibe, auf den Markt zu kommen. Seinem kurz darauf erfolgten frühen Tod ist es wohl zuzuschreiben, dass sich seine Idee nicht durchzusetzen vermochte; von seinen Scheiben sind nur wenige Stücke erhalten.

Zwei der drei grossen deutschen Rechenschieber-Hersteller siedelten sich aus zolltechnischen Gründen mit Zweigwerken in der Schweiz an: In Grabs SG, also nur wenige Kilometer vom liechtensteinischen Herstellungsort der sensationellen mechanischen Kleinrechenmaschine CURTA entfernt (sie wäre eines eigenen Artikels würdig), entstand eine Fabrikniederlassung von Faber-Castell, welche die damals gängigsten Modelle aus dem Sortiment des Stammhauses für den EFTA-Markt produzierte. Ähnlich verhielt sich der badische Rechenschieberhersteller Albert Nestler, der in seiner schweizerischen Schwesterfabrik und Generalvertretung, der Massstabfabrik Schaffhausen (ursprünglich Beck & Nestler, später MASSAG ), einzelne seiner Modelle bauen liess.

Es gibt aber auch Hinweise auf schweizerische Rechenschieber, deren Ursprung noch nicht abgeklärt oder vielleicht nicht mehr abklärbar ist. In diese Gruppe gehören Namen wie Lancester, mit einem kaufmännischen Rechenstab aus Neusilber (Herstellungsort noch unbekannt) und Henzi, Bern, mit einer wunderschönen 75 cm-Rechenscheibe. Dann gibt es je einen eher konventionellen Rechenstab der Marken Pfenninger, Zürich, und Rödelberger, Bern, die vielleicht trotz ihrer schweizerischer Marke aus deutscher Produktion stammten. Dem Verfasser ist auch noch nicht bekannt, wer der «Oberingenieur H.H. Peter» gewesen ist, der in Zürich vor 1905 mindestens zwei Auflagen eines eigenen Rechenschiebers herausgebracht hat; vermutlich war er Bauingenieur. Sein Rechenstabmodell wurde später von Nestler herausgegeben und unter der Bezeichnung «System Peter» als speziell für Maschinen-, Bau- und Vermessungsingenieure geeignet angeboten; es wies, zu jener Zeit eine Besonderheit, Potenz-, Exponential- und tachymetrische Skalen auf. Ein Patent der Stickereiexportfirma Reichenbach & Co. in St. Gallen lautet auf eine Rechenwalze zum Umrechnen des englischen Währungssystems; von einer Realisierung der Idee durch den Patentinhaber ist nichts bekannt, dagegen hat LOGA später eine solche Walze gebaut. Zwei Rechenscheiben aus Renens, Kanton Waadt, die Samia und die Tesa sind auch noch nicht abschliessend erforscht; die Samia zeichnete sich durch eine mechanische Nullstellvorrichtung aus. Ein ungewöhnlicher, patentierter Rechenstab für das Bauingenieurwesen (Beton-, Holz- und Stahlbau) wurde von Emil Wüest, Luzern, entwickelt; wer er gewesen ist, müsste auch noch ermittelt werden. Dasselbe gilt für den Schaffhauser Bauingenieur H. Bock, der einen Rechenschieber für Rohrleitungsnetze baute. - Diese Liste ist nicht abschliessend: Es konnten bis heute über fünfzig schweizerische Rechenschieberhersteller ermittelt werden; von den meisten ist wenig oder gar nichts mehr bekannt.

Und nicht zuletzt: Es gibt sogar einen schweizerischen Rechenschieberhersteller, der heute noch liefern kann. Die Hydro-Rechenscheiben von Kisseleff, Küsnacht bei Zürich, zur Berechnung der Wasserführung in Rohrleitungen sind tatsächlich immer noch erhältlich.

Auch die sog. Datenschieber, das sind Schiebe- und Drehtabellen, mit denen aber meist nicht gerechnet werden konnte, haben einen schweizerischen Ursprung. Der Zürcher Jacob Huber fertigte unter der Marke Normus die unterschiedlichsten Schiebetabellen aus Pappe, die als Farblithographien oft in sehr ansprechender Gestaltung angeboten worden sind. Hubers Rechte sind dann später auch von ausländischen Herstellern erworben, oft aber auch illegal verwendet worden.

Soviel zur Rolle der Schweiz in der Geschichte des Rechenschiebers.

6 Skalensysteme

Rechenschieber entstanden ursprünglich in Einzelanfertigung oder in Kleinstserien. Die Instrumentenmacher der damaligen Zeit waren einerseits wissenschaftlich-technisch gebildet und anderseits handwerklich hochbegabt, sie wurden als Künstler betrachtet und bezeichneten sich selber auch als Künstler. Ihre Produkte wiesen die vom jeweiligen Besteller gewünschten Skalenbilder auf und stellten auf dessen Anwendungsproblem zugeschnittenene Einzellösungen dar. (Eine analoge Entwicklung war zu Beginn der elektronischen Datenverarbeitung festzustellen, wo auf den einzelnen Anwender zugeschnittene Programme, die sog. Insellösungen, vorherrschten.)

Der Franzose Amédée Mannheim, später Artillerieoberst und Professor für Mathematik, hat um 1850, als nur 19-jähriger, eine Skalenauswahl und -anordnung vorgeschlagen, die den Weg zum allgemein anwendbaren Rechenstab und damit zur industriellen Produktion eröffnete. Das System Mannheim bildete die Grundlage der Rechenstabproduktion in Grossserien, die Produkte waren also nicht mehr für eine im Voraus bekannte Käuferschaft bestimmt. Die Vorderseite eines Rechenstabes des Systems Mannheim wies ein Grundskalen- und ein Quadratskalenpaar auf, die Rückseite der Zunge eine Sinus- und eine Tangensskala; um mit diesen beiden zu rechnen, müsste die Zunge gewendet werden, da es keine rückseitigen Ablesemarkierungen gab. Das System Mannheim bildete gewissermassen einen ersten internationalen Standard. Der Läufer, der es gestattete, auch sich nicht berührende Skalen rechnerisch miteinander zu verbinden, fand mit dem System Mannheim 175 Jahre nach seiner Erfindung nun doch endlich eine allgemeine Verbreitung.

Der deutsche Ingenieur Max Rietz ergänzte 1902 die Mannheimschen Skalen mit einer Kuben- und einer Mantissenskala; in Aussparungen der Körperrückseite angebrachte Indexlinien gestatteten, die Sinus- und Tangensskalen ohne Umdrehen der Zunge anzuwenden. Um das Jahr 1925 ergänzte Rietz sein System mit einer reziproken Grundskala und einer Skala für kleine Winkel; das System Rietz blieb dann bis zum Ende der Rechenschieberproduktion eines der meistangewendeten Systeme und vermochte das System Mannheim völlig zu verdrängen.

1934 wurde die Skalenanordnung des Rechenschiebers nochmals grundsätzlich überdacht: An der Technischen Hochschule Darmstadt hatte der Mathematikprofessor Alwin Walther eine neue Skalenauswahl und -anordnung erarbeitet, die die Bezeichnung System Darmstadt erhielt; gegenüber der Anordnung nach System Rietz wurde die Vorderseite des Rechenstabes mit einer pythagoreischen Skala (\sqrt{1-x^2}) ergänzt, die Mantissenskala auf die hintere und die Sinus- und Tangensskalen auf die vordere Längskante verschoben, so dass die Zungenrückseite für drei Exponentialskalen frei wurde. Weil diese Verbesserungen den Bedürfnissen der Ingenieure entgegenkamen, sollen die lieben Mathematikerkollegen Prof. Walther vorgeworfen haben, er verrate die Mathematik an die Ingenieure. Das System Darmstadt setzte sich durch und eroberte sich einen festen Platz neben dem System Rietz.

Später wurden durch Anfügen weiterer Skalen viele noch komplexere Rechenstabmodelle geschaffen, die in der Regel speziellen beruflichen oder wissenschaftlichen Zwecken dienten. Die Systeme Rietz und Darmstadt blieben aber bis zum Ende der Rechenschieberproduktion in den 1970er-Jahren die eigentlichen Basismodelle des Rechenstabangebots.

7 Jedem Fachbereich seinen Rechenschieber

Die relativ leichte Anpassbarkeit eines Rechenschiebermodells an unterschiedliche Bedürfnisse, der Konkurrenzdruck unter den vielen Herstellern und die Innovations-freudigkeit der Benutzer führte schnell dazu, dass für alle möglichen Berufe Spezialrechenstäbe gebaut wurden: Für Astronomen, Bankangestellte, Bauingenieure, Betriebstechniker, Bierbrauer, Chemiker, Elektroingenieure, Forstbeamte, Fotografen, Gynäkologen, Holzhändler, Kaufleute, Landwirte, Luftschiffer, Maschinenbauer, Molkereitechniker, Navigatoren (zur See und in der Luft), Schriftsetzer, Spirituosenhändler, Steuereinnehmer, Vermessungsingenieure, Viehzüchter, Zollbeamte und Zündholzhersteller; auch diese Auflistung ist bei weitem nicht vollständig. - Es gab sogar Blanko-Rechenstäbe zu kaufen, die der Benutzer mit Skalen nach eigenem Gusto versehen konnte (heute würde man von Selberprogrammieren sprechen).

Nicht zuletzt war der Rechenschieber auch militärdiensttauglich. In der Artillerie, später auch in der Aviatik, in der Logistik und im AC-Schutz waren Rechenstäbe, -scheiben und -walzen bei allen modernen Armeen z. T. bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg im Einsatz.

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Bild 11: Artillerie-Rechenstab der deutschen Wehrmacht, zweiter Weltkrieg. Die Marke «hel» (im Bild nicht sichtbar) war ein Geheimcode für Faber-Castell, Geroldsgrün, einer der grossen deutschen Hersteller; der Code sollte verhindern, dass aufgrund von Beutestücken die Fabrik bombardiert werden könnte. Auch die anderen deutschen Rechenschieberhersteller kennzeichneten ihre militärischen Produkte mit solchen Geheimmarken

 
Älteren Bauingenieuren in der Schweiz wird der Betonrechenstab STATOS noch in bester Erinnerung sein, von den Basler Ingenieuren P. Lüthy und M. Nussbaum entwickelt, in Frankreich vom renommierten Rechenschieberhersteller Graphoplex gebaut. Das 12,5 cm-Taschenmodell wurde von der Betonstahlindustrie grosszügig als Werbegeschenk verteilt, der genauere 25 cm-Stab musste dagegen im Bürofachhandel für teures Geld gekauft werden.

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Bild 12: Der kleine und der grosse Stahlbeton-Rechenstab «STATOS», entwickelt von den beiden Basler Bauingenieuren P. Lüthy und M. Nussbaum, hergestellt von Graphoplex, Frankreich

Aber nicht nur für die berufliche und wissenschaftliche Arbeit gab es Rechenschieber, spezielle Modelle vermochten auch Probleme des Alltags zu lösen. So gab es Kalorienrechner zum Erreichen oder Erhalten der schlanken Linie und Benzin-Verbrauchsrechner für Automobilisten (beide wohl mit grosser internationaler Verbreitung), weiter gab es Rechenscheiben zum Umrechnen der alten nichtdezimalen in die neue dezimale Währung (Grossbritannien) und Promillerechner, welche die benötigte Zeit bis zum Wiedererlangen der Fahrtüchtigkeit nach Alkoholgenuss ermitteln liessen (Schweden), ...

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Bild 13: Rechenscheibe «Hydro» von Kisseleff in Küsnacht ZH; sie dient der Berechnung von Rohrleitungsnetzen. Eine der ganz wenigen Rechenscheiben, die heute noch erhältlich ist

8 Das Ende und was seither geschieht

Zwischen 1970 und 1980 begann der Siegeszug des elektronischen Taschenrechners. Fast schlagartig hat er der Rechenschieberära ein Ende gesetzt. Eine der letzten Zuckungen der Rechenschieberindustrie, nämlich die Idee, den Rechenschieber mit dem Taschenrechner in einem Gerät zu vereinigen, war ein totaler Misserfolg. Wegen der nur wenigen verkauften Exemplare gehört dieser Rechenstab, der einzige Rechenschieber, bei dem man von Zeit zu Zeit den Akku zu laden hat, heute zu den gesuchtesten Sammlerstücken.

Kaum jemand wendet heute noch einen Rechenschieber an; höchstens in der graphischen Branche haben sich Rechenscheiben als ideale Geräte zum Umrechnen von Formaten beim Verkleinern und Vergrössern halten können; solche Scheiben sind z. T. sogar heute noch im Handel erhältlich. Alle übrigen Berufe haben den vertrauten Helfer, der so oft und gerne auch als Statussymbol sichtbar in der Brusttasche getragen worden ist, der Vergessenheit anheimgegeben; der Aktenkoffer und später das Handy haben später diese Signalfunktion übernommen.

Die meisten Rechenschieber dürften schon längst auf den Weg der Abfallbeseitigung geschickt worden sein. Um die verbliebenen Exemplare bemüht sich heute eine kleine Zahl von Sammlern (weltweit sind es rund 400). Sie haben sich die Aufgabe gestellt, die Epoche des Rechenschiebers und deren Erzeugnisse der Erinnerung und damit der Nachwelt zu erhalten. Diese Sammler sind weltweit untereinander lose freundschaftlich verbunden. In drei spezialisierten Zeitschriften (auch das gibt es) und an den jährlichen internationalen Kongressen berichten sie von ihren historischen und technischen Sammel- und Forschungsergebnissen. Der vierte solche Kongress fand 1998 erstmals in der Schweiz statt und vermochte über hundert Teilnehmer aus sieben Ländern Europas und aus den USA zu verzeichnen; spätere Kongresse haben in der Zwischenzeit wechselweise in Deutschland, England und den Niederlanden stattgefunden. Weitere sind geplant.

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Bild 14:
Aus einer CD gefertigte Rechenscheibe von Architekt Thomas Rasche, Berlin, 1998. Sie dient der Berechnung von Proportionen nach dem Goldenen Schnitt und der Körpermasse bei unterschiedlichen Körpergrössen sowie der Papierformate. Wohl einer der jüngsten Rechenschieber

9 Quellen

Aeschlimann, Heinz: «Die topographischen Rechenschieber von Kern Aarau», Dällikon, 1998

Cajori, Florian: «A History of the Logarithmic Slide Rule and Allied Instruments», New York, 1919

Deutsches Museum, München: Ausstellung

Jezierski, Dieter von: «Rechenschieber, eine Dokumentation», Stein b. Nürnberg, 1997

Joss, Heinz: «Messrechnen: 350 Jahre Rechenschieber», Elemente der Mathematik, Birkhäuser, Basel, 1998

Joss, Heinz: «Schweizerische Rechenschieber auf dem Weltmarkt: Die Firmen Billeter und National sowie Daemen-Schmid und Loga», Dällikon, 1998

Joss, Heinz: «Schweizerische Personen, Firmen und Marken aus Geschichte und Gegenwart des Rechenschiebers», Dällikon, 1998

«Journal of the Oughtred Society», Palo Alto, California, USA

Kugel, Günter: «Kyds Rechenschieber (1834/35), ein Beitrag zur Rekonstruktion», Dällikon, 1998

Museum of Science, London: Ausstellung

Schoeck-Grüebler, Elisabeth: «Felix Donat Kyd, ein schweizerischer Protagonist des Rechenschiebers», Dällikon, 1998

Technorama, Winterthur: Archiv

Whipple Museum of the History of Science, Cambridge, UK: Ausstellung

Wirz, Paul: «Die halbrunden Rechenscheiben von Walter Hiltpold», Dällikon, 1998

Fast beliebig viel weitere Literatur findet sich in Zerfowski, Detlef: «Mechanische Rechenhilfsmittel in der Vergangenheit - Eine Literaturrecherche», Weinstadt-Beutelsbach, 1999

Bilder, soweit nichts anderes angegeben, Fotos des Verfassers.

10 Copyright

Copyright (c) by Heinz Joss, CH-8108 Dällikon/Schweiz, Dezember 2004
Alle Rechte beim Verfasser
Eingebracht mit Genehmigung von: F. Diestelkamp 10:48, 13. Jan 2005 (CET)

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